Bruckners Neunte und Weberns Passacaglia – Wiener Philharmoniker – Yannick Nézet-Séguin – Konzerthaus Dortmund.
Nachdem Anton Bruckner seine 7. Sinfonie einem König, die 8. dem Kaiser gewidmet hat, widmet er die 9. dem lieben Gott. So zumindest werden Äußerungen Bruckners kolportiert. Sein frommer Wunsch, so Zeit für die Vollendung zu bekommen, wurde allerdings nicht erfüllt. Der Finalsatz bleibt Fragment. Möglicherweise hat Bruckner ja den Finalsatz beendet, aber viele Partitur- und Skizzenblätter sind unmittelbar nach seinem Tod verschwunden. Andenkenjäger waren hier möglicherweise am Werk. Wie auch immer – das Unvollendete, Fragmentarische hat seinen besonderen Reiz und verleiht einem Werk häufig eine besondere Aura – so beispielsweise auch Schuberts h-moll Sinfonie. Das Göttliche als das Vollendete ist dem Menschlichen fern, unerreichbar und auch unbegreiflich. Das Unvollendete mit seinem Geheimnisvollen ist so vielleicht dem Menschen – paradoxerweise – Annäherung an das Göttliche, das Bruckner hier – nach Königlichem und Kaiserlichem – schafft.
In der Musik, der nicht-stofflichen Kunst, scheint die Nähe des Göttlichen am ehesten spürbar zu sein. Und so kann uns eine Aufführung über das Erklingen in die göttlichen Sphären führen.
Nun aber zur irdischen Realität des Konzerts: Ein böses Omen war wohl bereits, als beim ersten Ton in Bruckners Sinfonie eine Zuhörerin einige Plätze weiter den Klettverschluss ihrer Handtasche geräuschvoll aufriss. Unheiliges Entsetzen … Die Hellsichtigen hatten sich erst gar keine Karte gekauft, denn im Parkett gab es etliche freie Plätze, v.a. die teuren Plätze waren schlecht verkauft, aber bei Preisen bis 160 € finde ich es verständlich, dass manchem eine Karte zu teuer ist und war.
Ob die Wiener Philharmoniker einen Ort wie Dortmund nicht ernst genug nehmen oder wegen der unübersehbaren freien Plätze düpiert waren, wie einige Konzertbesucher meinten – meine hohen Erwartungen an das Orchester sind nicht erfüllt worden. Viele (zuviele) Unschärfen im Zusammenspiel, Unkonzentriertheiten, Ungenauigkeiten: bei Weberns Passacaglia und den Bruckner-Sätzen 1 und 2 waren kaum ein Pizzicato in den Violinen zusammen, beim Thema des 3. Satzes hatten viele Violinen ihr eigenes Tempo; insgesamt wurde entweder sehr laut oder leise gespielt, dazwischen gab es nichts. Die Ausgewogenheit zwischen den Instrumentengruppen fehlte mir: die Blechbläser übertönten die Streicher nahezu immer. … Wo war der berühmte Klang, der Schmelz der Violinen?
Anton Weberns op. 1 hätte ich mir heute mehrfach wiederholt gewünscht, um die Vielfältigkeit der hochkonzentrierten Musik besser wahrnehmen und mehr Details hören zu können. Bei Bruckner ist die Wiederholung ja per se gegeben, das Mysterium der Musik schien mir heute aber ausgeklammert. Nur im 2. Satz der Sinfonie gab es Zupackendes und im 3. Satz leuchteten wunderbare Momente auf, die allerdings durch eine zu Boden fallende Schulterstütze eines ersten Geigers wieder zerplatzten wie Seifenblasen. Wenn ich an die Rotterdamer Philharmoniker mit der 8. zurückdenke, wird mir die Enttäuschung noch bewusster. Da bleibt nur etwas, was auch Bruckner jetzt gemacht hätte: erstmal ein paar kühle Helle.